Mittwoch, Oktober 22, 2008

Wie ein Stein im Geröll

Das folgende Gedicht habe ich am Morgen gelesen und es hat mich den ganzen Tag über begleitet. Besonders der Schlusssatz ist hängen geblieben: "Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht."


Der schöne 27. September

"Ich habe keine Zeitung gelesen.
Ich habe keiner Frau nachgesehn.
Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet.
Ich habe keinem einen guten Tag gewünscht.
Ich habe nicht in den Spiegel gesehn.
Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen und
mit keinem über neue Zeiten.
Ich habe nicht über mich nachgedacht.
Ich habe keine Zeile geschrieben.
Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht."

Thomas Brasch

Dann griff ich in der Buchhandlung zu einem schmalen Büchlein, es hat nur nur gut 150 Seiten.

"Wie ein Stein im Geröll"
von Maria Barbal

Conxa, ein Bauernmädchen aus den spanischen Pyrenäen, wird als 13 - jährige zu einer Schwester ihrer Mutter und deren Ehemann gebracht. Fortan soll sie dort leben. Beim kinderlosen Paar arbeitet sie auf dem Feld und im Haus. Später heiratet sie ihre grosse Liebe Jaume.

"Man hätte meinen können, Jaume sei einzig und allein nur deshalb auf der Welt, um mir all meine Ängste zu nehmen, ein Licht anzuzünden, wo ich nur Dunkelheit sah, und um alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, wenn sie sich vor mir wie ein riesiger Berg aufzutürmen schienen."

Conxa und Jaume haben drei Kinder. Während des Bürgerkriegs wird Jaume erschossen und Conxa wird mit ihren Kindern für kurze Zeit ins Gefängnis gesperrt. Sie steht unter grossem Schock und sagt:

"Ich fühle mich wie ein Stein im Geröll. Wenn irgend jemand oder irgend etwas mich anstösst, werde ich mit den andern fallen und herunterrollen; wenn mir aber niemand einen Stoss versetzt, werde ich einfach hierbleiben, ohne mich zu rühren, einen Tag um den anderen. . ."

Conxa muss nun den Hof alleine bewirtschaften.
Als alte Frau folgt sie später ihrem Sohn nach Barcelona in eine ganz andere, fremde Welt, in ein Haus mit sieben Stockwerken. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt.

"Barcelona, das ist ein Haus, dessen Fenster nicht zur Strasse schauen. Sie schauen auf den Hausflur und den Dienstbotenaufzug.
Barcelona, das ist ein ferner Himmel und schreckhafte Sterne. Das ist ein feuchter Himmel und ein grauer Regen.
Barcelona, das ist niemanden zu kennen. Nur die Familie. Und manchmal zu hören, wie mit merkwürdigen Worten gesprochen wird. Das ist zu vergessen, welche Laute die Tiere daheim von sich geben, um gegen Abend zu sehen, wie Hunde an einer Leine ausgeführt werden.
Barcelona, das ist ein kleines Brot, das jeden Tag aufgegessen wird, und das ist Milch aus einer Flasche, ganz weiss, ohne Rahm, und ganz dünn im Geschmack.
Und das ist jeden Tag zu begreifen, dass ich nur noch zu ganz wenigen Arbeiten tauge. Manchmal nach dem Essen die Teller abspülen. Aber wer weiss, ob sie dann auch wirklich sauber sind. Und wenn am Abend Barcelona zu einer Geschichte von dort oben wird, dann ist da niemand, dem ich sie erzählen kann, und allen ist es lästig, dass aus diesem Abend in Barcelona ein Stück Abenteuer aus einer vergessenen Bergwelt werden soll."

Der Schluss lautet:
"Barcelona, das ist für mich etwas sehr Schönes.
Die letzte Stufe vor dem Friedhof."


Der Roman wird aus der Sicht von Conxa erzählt. Die Sprache ist einfach, bescheiden, schnörkellos, ruhig, fast archaisch. Ich hätte noch stundenlang weiter lesen mögen.
Conxa berichtet von ihren Leiden, von den Freuden, dem Glück, das sie mit Jaume findet, sie erzählt von der Kraft und der Schönheit der Natur, den Katastrophen, dem Krieg und macht deutlich, dass ihr Leben kein Einzelschicksal ist sondern stellvertretend für ganz viele Frauen steht.

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

...man überlegt sich zwangsläufig, was herr brasch denn nun gemacht hat...ein sehr sehr packendes buch gelesen??! aber auch da denkt man doch ab und an über sich selbst...gerade da......vielleicht schlief er.....
ich mag gern, wenn ich zum denken aufgefordert werde!
deine herbstfarben sind toll! übrigens sind die gelben kerzen am ofenpass lärchen! im frühling ganz hellgrün, auch toll!grüßchen ursula

Anonym hat gesagt…

Eine sehr ansprechende Rezension, die mich neugierig macht, das Buch selbst zu lesen.
Werde mal meinen Mann, den Buchhändler, beauftragen... :)

LG,
Kathrin

Gabrielas Tagebuch hat gesagt…

liebe ursula
ich denke, thomas brasch hat einfach die seele baumeln lassen :-) ich wünsche ihm, dass sein 28. september auch so schön wird :-)

und dir wünsche ich von herzen ein frohes wochenende, sei lieb gegrüsst!

Gabrielas Tagebuch hat gesagt…

liebe kathrin
das buch ist wirklich wunderschön zu lesen und ebenso der neueste roman von maria barbal: "inneres land"

hach was für ein glücksfall, der eigene mann ein buchhändler!

ich schicke dir liebe grüsse und danke für deinen besuch.