Freitag, September 19, 2008

Älter werden

Die Autorin, die schon seit frühen Jugendjahren an MS leidet, lässt den Leser an ihren persönlichen Erinnerungen und Träumen teilhaben. Dazu führt sie ihn zu den verschiedensten Stationen ihres Lebens und spricht offen über ihre Beobachtungen, Hoffnungen und Ängste.
Ich fand den folgenden Abschnitt sehr eindrücklich, in dem sie berichtet, wie sie sich eine Sammlung schöner alter Stöcke zulegt, sich für längere Strecken in den Rollstuhl setzt und beobachtet, wie die Menschen durch die Räume und über die Plätze kommen:

"Das ist ein ein erstaunliches Geschlurfe, Gehadsche und Getrample - ganz ohne Not, in den meisten Fällen. Die neidische Behinderte kann es kaum fassen, mit welcher Unachtsamkeit sich die Leute vorwärtsbewegen: Es gibt die latschenden, die schrittgehemmten, die unkoordinierten, die hampeligen, die zu weit ausgreifenden, die zu enggeführten, die trippelnden, die schaukelnden, die stampfenden, die breitbeinigen, aber es gibt auch die leichtfüssigen, die unbekümmerten und die zierlichen Geher, es gibt Frauen, die den schweren Schwangerschaftsgang nach der Geburt ihrer Kinder nie wieder ablegen, ältere Männer, die sich einen etwas zu dynamischen Gang abfordern, und die Komiker unter den Gehern, die - wie ich vermute - eine pupertäre Verklemmung offensiv in eine skurrile Gangästhetik umformten. Am besten gefallen mir alte Damen, in deren anmutigem Gang ich noch das junge Mädchen erkennen kann, das sie einmal waren."

Silvia Bovenschen schreibt nüchtern, sachlich. Am Ende des Buches sagt sie:
"Noch vor 10 Jahren waren mir andere Erinnerungen bedeutsam - ich bin ganz sicher, kann mich aber nicht mehr an die damalige Auswahl meiner kleinen Ich-Geschichten erinnern. Ich nehme an, die Auswahl folgt in jeder Altersstufe irgendwelchen Eitelkeitskriterien. Irgendwelchen? Eine Unverschämtheit. Wo bin da ich? Ich bin eine fragwürdige Erinnerungsgeschichte.
Ich bin ein bündelndes rückkoppelndes Als-ob, das sich eine fragwürdige Erinnerungsgeschichte schafft, um dann aus ihr zu bestehen. . ."

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