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"Es ist schon über so viele Dinge Gras gewachsen, dass
man bald keiner Wiese mehr trauen kann."
Klaus von Welser
"Eine Maus lebte in ständiger Sorge, denn sie hatte Angst vor der Katze. Ein Zauberer hatte Mitleid mit ihr und verwandelte sie in eine Katze. Aber dann hatte sie Angst vor dem Hund. Also verwandelte der Zauberer sie in einen Hund. Nun fürchtete sie sich vor dem Tiger. Der Zauberer verwandelte sie in einen Tiger. Nun hatte sie Angst vor dem Jäger.
Da gab der Zauberer schliesslich auf und verwandelte den Tiger wieder in eine Maus:
"Nichts, was ich für dich tun kann, wird dir helfen, denn du hast das Herz einer Maus."
Marco Aldinger, aus: Geschichten für die kleine Erleuchtung
"Kannst du mir sagen, wie viel eine Schneeflocke wiegt?",
fragte eine Kohlmeise eine Wildtaube.
"Ein Nichts von einem Nichts",
antwortete sie.
"Da muss ich dir etwas Erstaunliches erzählen",
sagte die Kohlmeise.
"Ich sass auf einem Tannenzweig nahe am Stamm,
als es zu schneien anfing, nicht heftig,
es war kein Schneesturm,
nein, so leise wie ein Traum.
Da ich nichts Besseres zu tun hatte,
zählte ich die Schneeflocken,
die auf den Zweigen und Nadeln meines Astes
hängen blieben. Ich kam bis zu 3.741.952.
Als die nächste Schneeflocke
auf den Ast fiel - ein Nichts von einem Nichts,
wie du gesagt hast - , brach der Ast ab."
Nachdem sie das gesagt hatte,
flog die Kohlmeise davon.
Die Taube, seit Noahs Zeiten eine Verkünderin
des Neuen, dachte über die Geschichte nach und
sagte schliesslich zu sich:
"Vielleicht fehlt nur noch eine einzige Stimme,
damit es Frieden auf der Welt gibt."
Kurt Kauter, aus: "Offen wie das Meer, weit wie der Himmel" von Jack Kornfield

"Ich hab nicht recht verstanden, Gott. Sag's bitte nochmal. Sollte ich Dir danken oder verzeihen?"
Alexander Panagoulis
"Der bekannte argentische Golfer Roberto de Vicenzo gewann einmal ein Tournier. Nachdem er vor den Kameras lächelnd einen Scheck in Empfang genommen hatte, begab er sich ins Clubhaus, um sich für den Nachhauseweg umzuziehen. Kurz darauf ging er über den Parkplatz zu seinem Auto, als ihn eine Frau ansprach. Sie gratulierte ihm zu seinem Sieg und klagte dann über ihr todkrankes Kind. De Vicenzo war von ihrer Geschichte gerührt, zog den Scheck heraus und überschrieb ihn der Frau. "Lass es dem Kleinen eine Weile gut gehen", sagte er und drückte ihr den Scheck in die Hand.
In der drauf folgenden Woche ass er im Country Club zu Mittag, als ein Angestellter des Golfclubs zu ihm an den Tisch kam. "Mir haben ein paar Mitarbeiter letzte Woche erzählt, eine junge Frau hätte Sie nach dem Tournier auf dem Parkplatz angesprochen." De Vicenzo nickte. "Nun", sagte der Angestellte, "ich habe eine Neuigkeit für Sie. Die Frau ist eine Betrügerin. Sie ist weder verheiratet, noch hat sie ein krankes Baby. Sie wurden hinters Licht geführt, mein Freund."
"Sie meinen, es gibt gar kein todkrankes Baby?", erwiderte de Vicenzo.
"So ist es."
"Das ist die beste Nachricht, die ich diese Woche erhalten habe", sagte Vicenzo."
Jack Kornfield aus: Offen wie der Himmel, weit wie das Meer

"Der blaue Himmel ist blau.
Damit ist alles gesagt
über der blauen Himmel.
Dagegen diese fliegenden Bilderrätsel -
obwohl die Lösung immerfort wechselt,
kann sie ein jeder entziffern.
Unfassbar sind sie in höheren Lagen,
nebulös. Und wie sanft
sie hinsterben! So schmerzlos
ist wenig hier. Die Wolken,
sie haben keine Angst, als wüssten sie,
dass sie immer wieder zur Welt kommen."
Hans Magnus Enzensberger
aus: Die Geschichte der Wolken
Der Schwan
Ein Epilog
"Der Schwan, wenn er sein Ende naht,
Das heisst: wenn ihm sein Sterben schwant,
Zieht sich zurück, putzt sein Gefieder
Und singt das schönste seiner Lieder.
- So möcht auch ich, ist es soweit,
Mal eingehn in die Ewigkeit."
Mascha Kaléko
Den Sonntag mag ein jeder gern
"Der Sonntag kommt auf leisen Socken,
Im schwarzen Rock, mit Silberlocken,
mit Himmelsblau und fernen Glocken,
Den Psalter in der Hand.
Im weissen Hemd voll bunter Borten,
Mit Bratenduft und Apfeltorten
Und Sonntagsstille allerorten,
So zieht er durch das Land.
Am Rucksack einen Strauss voll Flieder,
Streckt er am Abend seine Glieder,
Dann singt er seine Abschiedslieder
Und schwindet unerkannt."
Mascha Kaléko
Gestern feierten wir vier Schwestern den Geburtstag unserer ältesten Schwester. Der Tag war voller Erinnerungen an früher, voll von "weisst du noch?" voll Lachen und nachdenklich sein.
"Wie still war damals doch die Welt,
erinnern sich die Leute.
Die Hunde haben zwar gebellt.
doch nicht so laut wie heute."
Frantz Wittkamp
Unsere grosse Schwester hat ein schweres Leben und ist immer auf unsere Unterstützung angewiesen. Es braucht immer alle vier, damit wir wieder all ihre Probleme bewältigen können.
"Manchmal ist die Welt ganz klein
und manchmal riesengross,
manchmal ist sie ganz aus Stein
und manchmal ganz aus Moos."
Frantz Wittkamp
Manchmal möchte ich die Verantwortung zurückgeben, aber dann erinnere ich mich wieder an den Lösungsvorschlag von Frantz Wittkamp, wenn er sagt:
"Manchmal ist mein Herz so schwer,
dann kann ich es nicht tragen,
dann schiebe ich es vor mir her
auf einem kleinen Wagen."
"Ich sah dich im Traum vor dem Haus,
du trugst einen Blumenstrauss.
Da wachte ich auf und fand
eine Blume in meiner Hand."
Frantz Wittkamp

Bittgedanke, dir zu Füssen
"Stirb früher als ich, um ein weniges
früher
Damit nicht du
den weg zum haus
allein zurückgehn musst"
Reiner Kunze
Foto: Andrew Jackson
Menschberg
"Kleine, alte Frau
Grosser, weiser Mensch
Verwittert und vererdet geht Ihr
Zwerg - und doch berghaft
Den wütenden Schneesturm
Der Wintersteppe gelassen an
Euer Gesicht ist eine Landschaft
Mit dunklen Furchen durchzogen
Und von immer noch leuchtenden
Erlebnissen gezeichnet
Eure Finger sind Wurzeln
Ausgewaschen und abgeschliffen
Und in Eurem Blick wohnt
Die Weisheit, sanft und klar
Dort, wo Ihr angekommen seid
Sind die Winde des Schicksals
Abgeklungen"
Galsan Tschinag
Passend zur Jahreszeit habe ich ein wunderschönes Bilderbuch gesehen:
"Es schneit!"
Gestaltet wurde es von der japanischen Bilderbuchkünstlerin: Komako Sakai.
Amazon schreibt dazu: "Schnee legt das Leben in der Stadt lahm. Auch der Kindergarten fällt aus. Doch das Hasenkind ist fasziniert von der weissen Pracht! Es ist hinreissend, wie Komako Sakai diese Stimmung in ihrem neuen Buch einfängt und wie es ihr ein weiteres Mal gelingt, uns mit ihren Bildern zu berühren und zu verzaubern."
Wenigstens im Bilderbuch schneit es. Das tröstet ein wnig darüber hinweg, dass hier bei uns der grosse Schnee noch immer auf sich warten lässt.

Stacheln
"Sei lieb zu dir
Hüte dich wenigstens
vor deinen eigenen Stacheln
Gibt es nicht
Ohnehin genug solcher
die darauf gieren
Dich zu verletzen?"
Galsan Tschinag
Ich habe "Der Glückliche" von Hans Schertenleib gelesen.
Der Protagonist heisst This Studer, ist Musiker und spielt hervorragend Trompete. Ein Freund lädt ihn nach Amsterdam ein um für ein paar Auftritte in einer Jazz-Combo zu spielen. Mit seiner Frau Daniela reist er dorthin und zeigt ihr "seine" Stadt. Während dieses Aufenthalts lässt Studer sein ganzes bisheriges Leben Revue passieren. Er, der sich für einen Glückspilz hält, erklärt seine Definition von Glück:
"Dass dir die Erde leicht sei - und du dir selber auch."
In farbenprächtigen Bildern beschreibt er seine Kindheit und erinnert sich dankbar an seinen Grossvater, der in ihm die Liebe zur Trompete weckte.
Als er auf einem Spaziergang einen verletzten Hund sieht, werden in ihm Erinnerungen wach an einen Hund aus seiner Jugendzeit. This hat das Gefühl, er müsse an diesem Hund ein damals geschehenes Unrecht wieder gut machen.
Die Zeit scheint still zu stehen.
Am Schluss der Novelle sagt Studer:
"Die meisten Menschen sind blind für das Geschenk, das sie bekommen haben, sie ersticken am eigenen Atem, lassen sich vom eigenen Gewicht nach unten ziehen, immer weiter nach unten. Das Glück ist nicht blind. Blind sind die, die es nicht sehen wollen."
Mich hat diese Geschichte sehr berührt. Sie steckt voller Lebensfreude und Weisheit. Der Klang der Sprache ist kraftvoll und vermittelt ein reiches Spektrum an Farben, Bildern, Gerüchen. Schertenleib schreibt mit zärtlicher Leichtigkeit.
Beim Stöbern in den alten Familienalben habe ich diese Fotos gefunden. Sie stammen von damals, als ich erst ein paar Stunden alt war.
Mama, Papa. Diese Worte klingen wie Musik.
"Die beiden Leute, Mann und Frau,
betrachteten das Kind.
Dann sagten sie: "Man sieht genau,
dass wir die Eltern sind."
Frantz Wittkamp